Die drei Ängste des Ernest Hemingway
Auf beiden Seiten der Strasse Wasser, Meer, und doch verrät ein sanfter Farbunterschied, dass es sich um zwei verschiedene Meere handelt: rechts das Graublau des überbordend fischreichen Golfes von Mexiko, links das Atlanti¬sche Meer, dunkelblau, fast tintenfarben. Auf dieser südlichsten Strasse der USA fährt man buchstäblich ins Blau, zumal sich oft nicht ausmachen lässt, wo der Horizont nun Himmel und Wasser trennt. Irreal, rätselhaft wie der Anfahrtsweg gibt sich auch Key West mit seinen von üppiger Vegetation umwucherten Holzhäusern. Tennessee Williams wohnt hier, Ernest Hemingway hat hier gewohnt.
In einer altväterischen Eisenwarenhandlung zwischen Gestellen, an denen Werkzeuge baumeln, Messer, Schnappschlösser und Büchsen, begrüsst uns O. T. Bruce, Verkäufer. Überall schon in der Stadt war sein Name gefallen, Otto Tobby Bruce, denn er war Hemingways engster Freund in Key West. Nach Geschäftsschluss sitzen wir ihm gegenüber auf der Veranda seines Hauses, das wie fast alle Häuser hier im bahamesischen Stil aus Holz erbaut ist. Tobby Bruce war Hemingways bester Freund in der Stadt, doch er sieht beileibe nicht wie der Freund eines Schriftstellers, eher wie der Freund eines Delphinfängers, nicht wie ein Bücherwurm aus. Noch bevor wir uns gesetzt haben, sagt er: «Hem, ich meine Ernest, war nicht das, zu dem man ihn gemacht hat.» Ich stutze. Soll das heissen, er sei falsch eingeschätzt, falsch interpretiert worden? Doch durch diese Vermutung begebe ich mich auf eine falsche Gesprächsebene; wir sprechen ja nicht über Literatur, sondern über Hemingway. «Er war kein Schläger, er ging Keilereien meistens aus dem Weg. Und die wenigen Male, als er seine Nerven verlor, benutzte die Presse, um aus ihm einen Draufgänger mit starker Faust zu machen, nur weil es die Faust eines berühmten Mannes war. Freilich, Hem hat geboxt, früher. Doch das war Sport, nach strengen Regeln.» Jetzt setzen wir uns in die geflochtenen Korbsessel auf der Veranda. Ein Propeller teilt die heisse Luft des südlichen Sommerabends, das Surren wird Stimmungsfächer, gibt den Rahmen, wo jeder Stein jene imaginäre Hemingway-Atmosphäre evoziert, die aus Key West Abenteurerszenerie macht. Tobby Bruce verschwindet im weiträumigen Holzhaus, er geht Bier holen. In die Dämmerung hinein-sinnend, die die Hibiskussträucher im Garten auf schwarze Schraffierungen reduziert, wundern wir uns über die prägende Macht der Umgebung: die Key-West-Bewohner scheinen von ihrer Stadt, diesem Aussenposten, geformt worden zu sein; der Gang, der Blick ist der des Pioniers, die Gesichter, herb, stolz, haben etwas Trapperhaftes, die Leute scheinen kostümiert (auch wenn sie Alltagskleidung tragen) wie Akteure eines Wildwestfilms, in der gedämpfteren Fassung allerdings, jener einer Fernsehfamilienserie, einer «soap-opera»; sie sind auf eine leutselige Art karg im Gespräch, ihr Selbstbewusstsein scheint ihnen Hemingway eingeimpft zu haben. Jeder könnte ein Verwandter Tommy Morgans sein, des leer ausgehenden Siegers, jeder eine Type aus dem virilen Figurenarsenal Hemingways, besonders auch dieser schlaksige Tobby Bruce.
«Doch nur in Stunden der Depression, im Zwiegespräch», tönt es aus dem Wohnraum, «liess Hem erkennen, dass sich hinter diesem sportlichen Draufgängertum so etwas wie ein Gefühl der Angst verbarg.» Tobby Bruce trat durch die Tür, einige Dosen Bier in seinem Arm. Er knickt seinen hagern Körper in einen Stuhl: «Vor drei Dingen hatte er Angst: Erstens vor dem Altern, das ihm in den ersten Jahren unserer Freundschaft wie eine Krankheit erschien, gegen die es nur eine Medizin gab, den Willen, zweitens dann vor dem Reichtum, von dem er korrumpiert zu werden fürchtete, und drittens vor der Qual, eines Tages nicht mehr schreiben zu können. Alle diese Ängste hat er sich vom Leib geschrieben, indem er sie auf Romanfiguren projizierte. Denken Sie nur an den Schriftsteller Richard Gordon in „Haben und Nichthaben", der nur deshalb seine literarische Potenz nicht entfalten kann, weil sie sich im Luxus der High Society verbrauchte.»
Die Verschlüsse der Bierbüchsen knackten in Tobby Bruces Rede hinein. «Die Angst vor dem Nicht- mehr-schreiben-Können wurde natürlich dadurch genährt, dass Hem das Schreiben nie leichtgefallen ist. Er musste sich Wort für Wort aus dem Gehirn herausschlagen, so wie man Steine aus einem Felsbrocken schlägt.» In der rechten Hand die Bierbüchse schüttelnd, den Blick immer wieder über das in der Nacht versickernde Gartengewucher schweifen lassend, schildert Bruce den disziplinierten Tagesablauf des Schriftstellers, der sich stets beim ersten Tageslicht vor sein Arbeitspult stellte; er schrieb stehend.
«Jede Geschichte, die Hem schrieb, entstammt seinem persönlichen Erfahrungsbereich, deshalb ist jedes Detail aus seinem Alltag erhellend für sein Werk. Gerade sein nachgelassenes Werk „Inseln im Strom" enthält so viele autobiographische Einzelheiten, signalisiert so genau seine Lebensgewohnheiten, dass jede Nebensache wichtig wird.
Tobby Bruce spricht auch draussen weiter, im Wohnzimmer, und während er den Eisschrank nach weiteren Bierdosen durchwühlt: "Dass so viele Lebensumstände in die Romane und Short-Stories hineinspielen, das habe ich nicht nur beobachtet, das weiss ich von Hem selbst. Er sagte einmal, das Schreiben sei schon deshalb eine verflucht schwierige Angelegenheit, weil man dabei gleich zwei Voraussetzungen erfüllen müsse: erstens muss man das Handwerk des Schreibens präzis beherrschen, und zweitens muss man den Gegenstand, über den man schreibt, genauestens kennen. Nur so kann redliche Prosa entstehen. Und Hem kannte alle Gegenstände, alle Situationen, über die er schrieb, aus eigener Erfahrung. Er sammelte Erfahrungen, um sie sinnenfällig und genau beschreiben zu können. Und er machte aus sich nur deshalb einen Abenteurer, um über Abenteuer schreiben zu können!
Ich könnte eine Menge von solchen Begebenheiten aufzählen, sie liessen sich alle in Hems Werk aufspüren. Eine Geschichte, die mir immer Angst machte, war beispielsweise seine aus allerlei Gesindel rekrutierte „Gaunerfabrik", mit der er die Nazi-Kollaborateure in Havanna bekämpfen wollte; oder seine waghalsige U-Boot-Jagd, die er mit seiner schwer mit Bomben und Maschinengewehren bewaffneten Jacht „Pilar" ausführte. Noch jetzt will mir scheinen, als habe er dieses lebensgefährliche Abenteuer nur ausgeführt, um im Insel-Roman darüber schreiben zu können!
Die wirtschaftliche und kulturelle Elite, das war nicht die Art Leute, die er liebte". Bruce weiss nur von einem einzigen Mal, dass Hemingway vor solchen Persönlichkeiten aus seinen Manuskripten vorlas. Die Lesung gefiel, der Applaus war stark. Doch Bruce berichtet von Hemingways sonderbarer Reaktion auf diesen Erfolg: «Wenn meine Bücher solchen Leuten gefallen, so kann daran etwas nicht stimmen.»
Jetzt wird Tobby Bruces Stimme bewegter: «Seine Leute, das waren die Fischer und Handwerker hier in Key West. Sie waren es, die ihn „Papa" nannten. Mit ihnen traf er sich unten am Hafen in der Bar von „Sloppy Joe". Die Bar und ihre Gäste - die Veteranen aus den Lagern oben in den Keys - hat er in „Haben und Nichthaben" gezeichnet. Sie akzeptierten ihn, und er fühlte sich dort unter seinesgleichen. Und das war das Grosse an Hem: hatte er einen Text fertiggestellt, so konnte es geschehen, dass er das Manuskript den Leuten hier zu lesen gab. Er bat sie um ein kameradschaftliches Urteil. Und wenn ein Kumpan, ein Freund hier den Text gut fand, so war Hem überzeugt, etwas Gutes geschrieben zu haben.»
In derlei Berichten macht Bruce den erstaunlichen Sachverhalt erkennbar, dass Hemingway ( was in Südamerika eigentlich nur noch Jorge Amado gelang) einer der wenigen ganz grossen «unelitären» Schriftsteller ist, die von allen Schichten, allen Klassen gelesen werden, selbst von solchen, die lediglich Trivialliteratur zu lesen gewohnt sind. Und selbst Analphabeten identifizieren sich mit seinen Figuren, empfinden sie als ihr Sprachrohr.
«Natürlich müssen wir auch Hems Wohnhaus hier in Key West besuchen», schlägt Tobby Bruce vor. Im leicht verdschungelten Gewucher eines tropischen Gartens steht da »ein malerisches Haus im spanischer|: Kolonialstil. Ein Kubus, dessen vier Seiten sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock von durchgehenden Loggien eingefasst sind. Ironischen Spass auf den Lippen, erzählt Mr. Bruce, dass dieses Haus für Hemingway nie zum erhofften stillen Refugium werden konnte. Kaum war des Schriftstellers Name berühmt geworden, so geschah etwas, was ihn nachhaltig ärgerte: sein Haus wurde im Stadtplan von Key West als Sehenswürdigkeit eingezeichnet. Als Nummer l war es da vermerkt, gleich neben «Johnsons Tropenhäusern», Nr. 17, und der Volière, Nr. 19. Diese fragwürdige Ehre hatte ihre unangenehmen Folgen: zu jeder Tageszeit standen neugierige Besucher unter dem Gartentor. Doch Hemingway ersann listige Tricks, um die Herbeigereisten abzuwimmeln: er engagierte einen alten Schwarzen als Torwächter, der die Besucher mit fürchterlichen Greuelgeschichten über den Schriftsteller abschreckte. So vernahmen die erstaunten Eindringlinge, dass Hemingway selber noch nie eine Zeile geschrieben habe. Er halte vielmehr, wie ein Sklavenhalter die Peitsche schwingend, seine Kinder zu unablässigem Schreiben an, während vieler Stunden am Tag. Es konnte aber auch geschehen, dass sich der von einem Hautausschlag übel zugerichtete Afrikaner den aufdringlichen Besuchern selber als «Mister Hemingway» vorstellte. Er liess sich allerlei atemberaubende Details einfallen, wenn er jeweils erzählte, wie, wo und unter welch gefährlichen Umständen er seine Bücher geschrieben habe. Peinlich war nur, dass er, immer wenn er von seiner Arbeit an «In einem andern Land» berichtete, den Inhalt des Buches mit jenem von «Onkel Toms Hütte» verwechselte.
Natürlich gehört zum Hemingway-Rundgang ein Umtrunk bei «Sloppy Joe». Und wieder wird die prägende Macht der Szenerie spürbar: jeder, der über die Schwelle tritt, wird unweigerlich zu einer Art Hemingway. Schon die Attitüde, mit der die Leute an der weit durch die Halle geschweiften Theke lehnen, verrät, dass sie sich als Romanfiguren vorkommen. Oder machen etwa wir Hemingways aus ihnen?: Existenzen, zwischen Buchdeckel zu pressen...
Und Tobby Bruce erzählt, während wir unbeholfen wie Amateurschauspieler in einem Bühnenbild an der Theke stehen, dass dieses Lokal nicht nur Schauplatz von Hems Romanen, sondern auch zentraler biographischer Ort geworden sei.
Joe Russel, der Besitzer dieser Bar, habe für Hem ein Hinterzimmer ausgeräumt, in das er sich oft zurückzog und in dem er arbeitete und dennoch in Tuchfühlung blieb mit «seinen Leuten», den Gästen der Bar. «Nach Hems Tod, den er sich gab, weil er die Entscheidung über sein Leben bei sich selber behalten und sie nicht einer ungerufenen Schicksalsmacht überlassen wollte, räumten wir das kleine Hinterzimmer hier auf. Da fanden wir Bündel von Manuskripten und Ernests Jagdflinte.» Sie hängt jetzt wie eine Reliquie an der Wand über der Theke. Darunter ist die vergilbte Titelseite des «Key West Citizen» vom 3. Juli 1961 mit der Todesnachricht an die Wand geheftet. Jedermann in Key West, der mit Hemingway in irgendwelcher Beziehung stand, hat da einige Erinnerungszeilen drin drucken lassen, ein rührender Gruss, Abschiedsworte von "Seinesgleichen, von Hems Leuten". Und darüber steht in gigantischem Trauerschwarz, fast eine Viertelseite gross, die kameradschaftliche Schlagzeile: «PAPA PASSES».