Geschichte von Allem und seinem Katalog
1999 erschien der „Katalog von Allem“ erstmals als Buch in einem Umfang von 1111 Nummern im Albrecht Knaus Verlag München. Damals war die Abfolge der Nummern rein chronologisch angelegt. Das Datum der Niederschrift einer Nummer bestimmte ihren Platz im Katalog und nicht etwa jenes, an dem sich das Beschriebene zugetragen hatte. Und weil auch die Erinnerung immer wieder ins Erleben hineinfunkte, konnten von Nummer zu Nummer Sprünge geschehen über Jahrzehnte und über Kontinente hinweg. Die bisher neueste Ausgabe des Ammann Verlages von 2008, die bereits 1697 Nummern umfasst, führt ein überschaubareres und verbindlicheres Ordnungssystem im Katalogisieren von Eindrücken, Beobachtungen, Erlebnissen ein: Siebzehn Sonderkataloge sind in den Ablauf eingegliedert, die Wahrnehmungen zusammenfassen, die sich an bestimmten Orten ergeben haben. Topographie also statt Chronologie. (Und selbst der „Bibersteinsche Katalog“, benannt nach dem vom Autor hochgeschätzten Künstler, liesse sich weitgehend topographisch auf die Gegend um die alentejanische Ortschaft Alandroal festlegen, in dem sich Bibersteins Atelier befindet.) So wird nun noch deutlicher, dass das Katalogisieren auch der Versuch ist, dem Chaos des Wahrnehmens mit einem gliedernden Zugriff beizukommen.
Die erste Buchpublikation aus dem „Katalog von Allem' erschien im Januar 1974 in La Paz, Bolivien, in englischer Übersetzung. Werner Guttentag, der Verleger von „Los Amigos del Libro“, war dem Autor zwei Jahre zuvor auf der Frankfurter Buchmesse begegnet und hatte so von dessen Katalogarbeit vernommen. Das Manuskript erreichte den bolivianischen Verleger dann aber nicht per Post. Der Autor brachte es während der fast ein Jahr dauernden Südamerikareise, die er 1973/74 mit Theo Ruff unternahm, eigenhändig nach Bolivien. Der von Roger Frood ins Englische übersetzte Katalog, der die Eindrücke der Zugfahrt von Zürich nach Beirut im Libanon sammelt, erschien als „Catalogue of the 134 most important observations during a lang Railway-Journey".
Im Jahr 1968 dauerte diese Zugreise noch fast eine Woche. Als der Eisenbahnzug aus dem Bahnhof Zürich rollte, merkte der Autor, dass er seinen Fotoapparat zu hause vergessen hatte. So kam ihm die Idee, die Erinnerungsbilder dieser Reise statt mit der Kamera nun mit den Mitteln der Sprache anzufertigen. Alles, was ihn ansprang, alles, was er fotografiert haben würde, wenn er die Kamera bei sich gehabt hätte, bildete er nun mit Wörtern ab. Und weil man ein fotografisches Bild, einen Schnappschuss, durch den einmaligen Druck auf den Auslöser erzeugt, musste er sich folgerichtig das Gesetz auferlegen, alles, was er fotografiert hätte, in einen einzigen Satz zu fassen. Die Aufzählung der Dinge, die also nicht Bild werden konnten und deshalb Sprache werde mussten, setzte strikt ihre eigene Sprachregelung durch: In Aufzählungen, in Katalogen haben die Sätze kein Prädikat. Nach der Rückkehr von dieser levantinischen Zugfahrt war der „Katalog der 134 wichtigsten Beobachtungen während einer langen Eisenbahnfahrt" abgeschlossen. Er ist Ausgangspunkt der weiteren Arbeit. Vier Jahre nachdem die englische Ausgabe in Bolivien erschienen war, gab Theo Ruff die deutsche Originalausgabe in seinem Regenbogen Verlag heraus.
Die auf der Eisenbahnfahrt vom Fehlen des Fotoapparates provozierte Wahrnehmungsart wollte weiter praktiziert werden. Dem Unscheinbaren, dem Uebersehenen sollte in der Vergroesserung seine Bedeutung zurueckgegeben werden: Uebungen im Wahrnehmen. Mittlerweile war der Autor Fernsehjoumalist geworden. Damit drangen filmische Techniken in die Katalogarbeit ein: Zoom und Schwenk und Schärfenverlagerungen wurden möglich. Jetzt erwies sich die Form des Kataloges als das taugliche Mittel, die Flut der Erfahrungen ordnend in den Griff zu bekommen: Katalog nicht einfach als Titel, Katalog als literarische Gattung. Und als „Work in Progress": Symbol für diese bewegliche Form, war der Büroordner. Etwa dreihundert Interessierte bekamen ihn geliefert mit der Aussicht, in unregelmässigen Abständen neue Lieferungen zu erhalten; der Katalog von Allem als Postversandroman. Für den einmal zu entrichtenden Abonnementspreis von dreissig Franken erhielten die Bezüger in 31 Jahren 15 Lieferungen zugeschickt. Daneben erschienen auch Teildrucke in beständigerer Form: Auszüge in mehr als 90 Anthologien und Zeitschriften. Hans Bolliger hat 1982 den zur Performance „Alles von Allem" umgearbeiteten Teil des Kataloges mit Kaltnadelradierungen von Alan Frederick Sundberg in seinem Verlag 3 herausgegeben. Und als Buch zur Performance ist es im Arche Verlag erschienen. Stahli.Recife.Editora liess der im Jahr 2000 publizierten brasilianischen Ausgabe „O Catàlogo Brasileiro“ 2006 den „Novo Catàlogo Brasileiro“ folgen, beide Male mit Holzschnitten des legendären J. Borges.
Ruff und Wehrli, die schon 1972 40'000 Exemplare der Anthologie „Dieses Buch ist gratis“ an Passanten auf Strassen und Plätzen verteilt hatten, druckten für die Postversand-Ausgabe im Ordner nun gemeinsam Blatt um Blatt von Wachsmatrizen auf einer alten Gestetner-Maschine. Drei Jahrzehnte später hiess die Druckmaschine Xerox. Das Zusammentragen der einzelnen Seiten zur versandbereiten Lieferung entwickelte sich durch die Jahre zum gemeinsamen Ritual. Zum fünfzehnten- und letztenmal fand es am 9. Juli 1999 statt.
Einmal mussten die Abonnenten sechs Jahre lang auf die nächste Lieferung warten. Beim Umzug des Verlages von der Schmidgasse an die Zürcher Bodmerstrasse war nämlich die Adressenkartei verloren gegangen. Verleger und Autor versuchten sie gemeinsam zu rekonstruieren: Nachdem sich mündliche Umfragen als ineffizient erwiesen hatten, schickten sie kurzerhand schriftliche Anfragen an fast alle Personen, mit denen sie in den vergangenen zwanzig Jahren Kontakt gehabt hatten: "Sind Sie Abonnent des „Kataloges von Allem" oder nicht ?“ Die stattliche Rücklaufquote - trotz Postvermerken wie 'gestorben' oder 'abgereist ohne Adressangabe' - ermöglichte es den beiden, endlich mehr als zwei Drittel der Abonnentenliste zu rekonstruieren. Inzwischen hatte Theo Ruff den Regenbogen Verlag verkauft. Von nun an kamen die Lieferungen des Katalogs heraus in der Theo Ruff Edition bei Kalumet. Und die portable Olivetti-Schreibmaschine des Autors war mittlerweile vom Notebook abgelöst worden. Die Versandaktionen konnten weitergehen. Bis zu Nummer 1111. Die jetzige Ausgabe im Ammann Verlag ist auf 1697 Nummern angewachsen.
Der editorische Kreis schliesst sich: Der Verlag „Los Amigos del Libro“, der 1974 in Bolivien die erste Buchausgabe aus dem „Katalog von Allem“ gewagt hatte, veröffentlichte drei Jahrzehnte später „El Catàlogo Latinoamericano“ in einer zweisprachigen Ausgabe spanisch und deutsch.
Seit der Ammann Verlag, Zürich, seinen Betrieb eingestellt hat, wird der „Katalog von Allem“ nun von Ricco Bilger in seiner Buchhandlung Sec52, Josefstrasse 52, 8005 Zürich ausgeliefert: T: 0041 44 271 18 18, E-Mai:
Vor kurzem ist im Merian-Verlag, Basel, das Hörbuch erschienen: „Peter K. Wehrli liest aus dem Katalog von Allem“. Dazu sagte der Bayerische Rundfunk: Allmählich merkt man, wie präzise und genau Wehrli liest, lesen muss, um seine oft vertrackten Sätze gleich beim ersten Hören verständlich werden zu lassen. Und wie man sich allmählich hineinhören kann in diese verdichtete Sprache, diese literarischen Schnappschüsse, die zwischen Bildbeschreibung und Aphorismus, zwischen allgemeiner Erkenntnis und lustvoller Subjektivität eine ganz eigene Weltsicht zugänglich machen.
Und im Tagesanzeiger stand zum Hörbuch zu lesen: Dass es diesen Katalog in Auszügen jetzt als Hörbuch gibt, gelesen von PKW selbst, ist auch eine feine Sache: Sinn, Doppelsinn und lustvoller Unsinn bekommen dadurch ihre freundliche, tiefe, bedächtige Originalstimme.
A. W. L.