Alles und Nichts
Tonspuren einer Reise durch Wehrlis "Katalog von Allem". Produktion: Deutschlandfunk 2009, Regie: Ursula Rütten. Sendung in DRS2 am 14. 1. 2011. Dauer: 45 Minuten.
Tonspuren einer Reise durch Wehrlis "Katalog von Allem". Produktion: Deutschlandfunk 2009, Regie: Ursula Rütten. Sendung in DRS2 am 14. 1. 2011. Dauer: 45 Minuten.
das Mass aller gestalterischen Dinge, dieses umfassende Inventar der Möglichkeiten, das Michael in seinem strengen 'Farbsatz' vor unsere Augen legt, und mit dem er in mir das vehemente Verlangen weckt, fähig zu sein zu einem 'Sprachsatz' von ebenso verbindlicher Totalität, ebenso masssetzender Unerbittlichkeit: "Überall ist alles anders" müsste da doch endlich weiterhelfen können, und die
verwegene Erkenntnis "Gäbe es die Kunst, sie müsste nicht gemacht werden!".
die völlig unerwartet heraufquellenden Nebelschwaden, die ich zuerst für Rauchschwaden eines gewaltigen Waldbrandes hielt, in die unser Bus bei der Abfahrt durch die Mata Atlantica eintauchte, und die die Schründe und Abgründe bei der Abfahrt nach Caraguatatuba in ein typisch bibersteinisches Bild verwandeln,
wobei ich ganz sicher bin, dass ich diese vom Tropennebel verhangene Landschaft auch dann als bibersteinische erlebt hätte, wenn Mike Biberstein bei dieser Fahrt nicht neben mir im Bus gesessen hätte,
und die Stärke des Erlebnisses, die ich mir nur damit erklären kann, dass ich bisher noch nie zusammen mit einem Künstler in sein naturgewordenes Bild eingetreten bin, was zudem auch deshalb bemerkenswert ist, weil ich bisher immer nur Grund hatte, von bildgewordener Natur zu reden und nicht -wie jetzt - umgekehrt.
das Gewimmer in der Sitzreihe hinter mir bei der Vorführung von Charlie Chaplins Film "Circus" im Kino in Vevey im Mai 1969, dieses sirenenartige Heulen, das sich anhörte, als schalle es über weite Ebenen und frisch vernarbte Grenzen in diesen Tag hinein, und das mir wohl nur deshalb noch jetzt in den Ohren hallt, weil mir ein Blick nach hinten verraten hatte, dass es niemand anders war, als der greise Charles Chaplin, der da vor seinem jugendlichen Abbild auf der Leinwand weinte, jammerte angesichts einer Vergangenheit, die nur die Tränen jenes Menschen weckt, dessen Zukunft schon vorbei ist.
mein unentwegter Blick auf Charles Chaplin beim Empfang im Garten seines Hauses in Vevey am 16. April 1969, dieses beharrliche Beobachten seiner Motorik, seiner Mimik und seines gestischen Verhaltens, von dem ich mir - wie ich nachher feststellen sollte: irrtümlicherweise - Aufschluss erhofft hatte über das, was Jean Cocteau gemeint haben könnte, als er nach einem Treffen mit Charles Chaplin am 18.November 1952 in sein Tagebuch schrieb: "Er hat eine kindliche Humanitätswut",
und mein, angesichts der Ergebnislosigkeit meines beobachtenden Starrens erst nach der Abfahrt aus Vevey aufkeimender Verdacht, meine Aufmerksamkeit der falschen Sache zugewandt zu haben, als ich Gestik und Mimik nach Zeichen von "kindlicher Humanitätswut" absuchte, anstatt das, was er sagte und meinte, in dieser Runde und in seinen Filmen.
die Wirklichkeit, die mich irritiert, seit Rainer Werner Fassbinder auf Andreas' Frage, wie weit er sich beim Entwurf der Handlung zum Film "Reise ans Licht" von wirklichen Vorkommnissen habe leiten lassen, brüsk zur Antwort gab: "Sie reden von Ihrer Wirklichkeit, nicht von meiner!",
und die Wirklichkeit, der mich Franz Gertsch neu vertrauen lehrte, als er mich erkennen liess, dass sowohl die Abbildung von Wirklichkeit als auch das erfundene Bild nichts anderes sind als: Wirklichkeit.
die Rückfahrkarte die vom Schaffner geknipste Rückfahrkarte nach Treib, die eigenartigerweise ausgerechnet jetzt zum unerwarteten Relikt wird aus der Schatztruhe des Zelluloid-Paradieses, weil sie mich daran erinnert, wie Sonia Braga von jenen Kolleginnen erzählte, die das Opfer ihrer Filmrolle geworden sind, ohne je wieder aus ihr herausfinden zu können, diese Rückfahrkarte, die Sonia Braga jeweils fordert, bevor sie eine Rolle annimmt: "Ich brauche den Fahrschein für die Reise in die darzustellende Person hinein, und nur wenn er auch für die Rückreise gültig ist, fahre ich wieder aus der Filmfigur hinaus und zurück zu mir selber".
der Hass im Schrei "Ich hasse dich!", den Sonia Braga - als schnelle Demonstration schauspielerischer Möglichkeiten - mit derart nüchterner Inbrunst zwischen ihren, einen Augenblick lang heftig flatternden, Lippen hervorquetschte, dass dieser Hass wie durchtränkt erschien von "Ich liebe dich!".